"International Virtual Cultural Centre of the Deaf (IVCCD)"

 Ein Erasmus+ Programm mit der Referenz-Nr. 2018-1-RO01-KA204-049336.

Dieses Projekt wird finanziell durch die Europäische Kommission gefördert.

 


          Deutschland                              Rumänien                                     Polen                                    Tschechien


Eine Woche voller Inspirationen und Meinungen aus vier Ländern Projektwoche vom 12.04. bis 16.04.2021 online

Teil 1: Informationen aus Tschechien

 

Eine lange Zeit hatten wir gehofft, die anstehende Projektwoche unseres internationalen Projekts (wir berichteten), doch noch in Tschechien, in der Stadt Hradec Králové (Königgrätz), durchführen zu können. Doch wie überall, machte die Corona-Pandemie auch für uns keine Ausnahme - wir stiegen um auf eine Online-Projektwoche über Zoom. Mit ca. 30 Teilnehmer*innen aus Rumänien, Tschechien, Polen und Deutschland, den verschiedenen Gebärden- und Lautsprachen sowie Referent*innen und Dolmetscher*innen war dies anfänglich eine Herausforderung, auch technisch. Doch die gute Zusammenarbeit unter den Partnerländern und Projektleiter*innen, die besonders gemeisterten Herausforderungen der Dolmetscher*innen und der gute Wille aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten diese Veranstaltung zu einem vollen Erfolg - auch online.

 

Der Startschuss fiel am Montag, den 12. April 2021 mit einer Begrüßung des Gastgeberlandes Tschechien durch die stellvertretende Schulleiterin, Vladimira Lišková (hörend), der Gehörlosenschule in Hradec Králové/Tschechien (Vyssi odborna skola, Stredni skola, Zakladni skola a Materska skola). Denn dort hätte diese Projektwoche normalerweise stattgefunden. Auch die stellvertretende Koordinatorin des gesamten Projekts, Cecilia Hamza (hörend) aus Rumänien, meldete sich zu Wort (leitend tätig in der Asociatia Nationala a Profesorilor pentru Elevi cu Deficiente de Auz Virgil Florea = Vereinigung von Lehrer*innen, die sich für die verbesserten Bildungsbedingungen gehörloser Kinder einsetzt) und begrüßte alle Teilnehmenden und Mitwirkenden aufs Herzlichste.

 

Ziel dieser Projektwoche?

Aus jedem Land nahmen mindestens vier Gehörlose teil. Es ist kein Geheimnis, dass auch heute noch viele Menschen nichts oder nur wenig über die Lebenssituation und Kultur der Gehörlosen wissen. Daher wurde diese Projektwoche ins Leben gerufen, damit die Teilnehmenden durch eine Art “Training” selbst etwas zur Aufklärung über die Gemeinschaft der Gehörlosen beitragen können.

Informationen, Impulse und Ideen sollen durch die angebotenen Vorträge und Diskussionen bei den Vorbereitungen unterstützen. In allen vier Ländern werden auf diese Weise alle gehörlosen Teilnehmer*innen als Multiplikatoren dazu beitragen, das Kulturgut und die Sprache der Gehörlosen weiter zu tragen und in der hörenden Mehrheitsgesellschaft sichtbarer zu machen. 

 

Was wurde geboten?

Täglich gab es verschiedene Workshops oder Vorträge zu den unterschiedlichsten Themen, die hier kurz zusammengefasst werden:

 

Gastgeberland Tschechien brachte sich vornehmlich mit Vorträgen aus dem Bereich der Theaterpädagogik ein. Denn Drama/Theater ist an dieser Gehörlosenschule sogar ein verbindliches Schulfach.

Eva Kuršová (hörend, Pädagogin dieser Schule) veranschaulichte mit praktischen Beispielen aus ihrem Schulalltag, wie sie mit gehörlosen/schwerhörigen Kindern arbeitet. Bei ihrer Präsentation ging es darum zu zeigen, wie Kindern die Möglichkeit gegeben werden kann, spielerisch ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen und sich ihrer Körpersprache bewusst zu werden. Verschiedene Atemübungen zur Entspannung oder zum kontrollierten Abbau von Gefühlen wie Wut und Ärger wurden vorgestellt. Spezielle Dehnungsübungen, die in kurzer Zeit den Körper mit Energie aufladen, bildeten den Abschluss dieser Präsentation und sind, so Kuršová, eine wunderbare Übungseinheit, um mit Kindern in den Schulalltag zu starten.

 

 

Foto li. Eva Kuršová.

Foto re: Alle Referent*innen wurden verdolmetscht - in 4 nationale Gebärdensprachen und Englisch - re unten Eva Kuršová (Tschechien) erklärt und präsentiert ihre Übungen

 

In einem zweiten Workshop präsentierte Eva Kuršová weitere praktische Übungen, die sie in Schulklassen anwendet. Sie sind wichtige Elemente, um z.B. innerhalb einer Klasse eine gemeinsame Kommunikationsbasis zu schaffen, Vertrauen aufzubauen und Teams zu stärken. Spezielle Paar- und Gruppenübungen kommen hierbei zur Anwendung (siehe Fotos). 

 

 

Eva Kuršová (Tschechien) - "Spiegelübungen" erfordern ein Feingefühl beim Führen oder Folgen von Bewegungen des Partners

Virtuelles Seilziehen - Führen und Folgen im Wechsel fördern den Teamgeist.

Mit einer Hand fest halten und nach hinten fallen lassen - eine Vertrauensübung.

 

Ebenfalls beeindruckend war die Präsentation von Jana Melkusová (gehörlos, Pädagogin dieser Schule), die über ihren Weg zum Studium und ihre Studienzeit  an einer (hörenden) Universität in Brünn/Tschechien berichtete. 

An der Universität für Musik und Theater entschied sie sich im Fach Theater für den Schwerpunkt “Theater für Gehörlose” - ein Studiengang, der 1992 in Tschechien neu gegründet wurde und den sie damals mit vier weiteren gehörlosen Student*innen belegte. Dolmetscher*innen für die theoretischen Fächer wurden von der Universität gestellt. Für die praktischen Fächer wie Tanz, Ballett, Pantomime etc. gab es keine Dolmetscher*innen. So mussten sie gemeinsam mit den hörenden Student*innen und Dozent*innen eigene Lösungen für die Kommunikation und die Wahrnehmung von Musik und Rhythmus finden, was zum Glück sehr gut gelang.

 

Durch ihr Studium inspiriert, ermuntert Melkusová gerade die jüngeren Schulkinder dazu, Freude und Interesse am Lesen zu entwickeln. Denn gehörlose Kinder haben oftmals Schwierigkeiten, Texte zu lesen und vollständig zu erfassen. Es bereitet ihnen oft Mühe und daher meist auch keinen Spaß zu lesen.

 

Anhand von riesigen Büchern, die sie selbst zu bestimmten Themen gestaltet und einer übergroßen Handpuppe (siehe Fotos), weckt sie durch interaktives Geschichtenerzählen die Neugierde der Kinder. Denn sie gebärdet die Geschichten, indem sie mit ihren Händen in die Handschuhe der Puppe schlüpft. Gleichzeitig können in dem Buch verschiedene Motive geöffnet oder bewegt werden. Die Kinder werden zudem ermutigt, eigene Bücher zu kreieren und die Geschichten sogar in Form eines Theaterstücks auf die Bühne zu bringen. Natürlich darf hierbei der Schriftspracherwerb nicht zu kurz kommen. Doch diese Art der Textaufbereitung, die sehr visuelle und lebhafte Darbietung des Geschichtenerzählens unter Einbindung verschiedenster Sinne, verbessert spielerisch die Lesekompetenz der Schulkinder Schritt für Schritt. Und nebenbei machen sie sogar die Erfahrung, dass Lesen auch Spaß machen kann.

 

Stolz über ihr eigenes kreatives Handeln und besseres Verstehen von Texten, entwickeln und stärken sie ihre Persönlichkeit. Bei Melkusová gilt das Motto: erst visuell arbeiten, dann schriftlich - auf keinen Fall umgekehrt.

Es ist wichtig, so Melkusová, dass gerade gehörlose Kinder und Jugendliche sich an positiven gehörlosen Vorbildern orientieren können. Denn nicht nur Hörende, sondern auch Gehörlose können vieles schaffen, wenn sie wollen und sich auf den Weg machen - auch ein Studium.

 

 

Jana Melkusová (Tschechien) stellt ihre Bücher vor. Sie können aufgeklappt und "bespielt" werden.

Interessante Fragen und lebhafte Diskussionen bereicherten die verschiedenen Vorträge (Dolmetscher*innen, Mitte re Jana Melkusová (Tschechien), unten Mitte eine Teilnehmerin aus Rumänien).

Die selbst kreierte Handpuppe von Jana Melkusová (Tschechien) ist immer dabei und "gebärdet sogar selbst".

 

Ein weiterer Beitrag aus Tschechien war eine interessante Schilderung von Jiří Procházka (gehörlos, Pädagoge dieser Schule) über seinen Einstieg in die Politik. In 2009 wurde er als Kandidat für den Vorsitz einer Partei nominiert, was ihn mit großem Stolz erfüllte, denn er war damit die erste gehörlose Person, der dieses gelang. Während des Wahlkampfs erhielt er auch Unterstützung von Hörenden und sammelte viel Erfahrung in der politischen Arbeit und bei seinen Reisen in andere Städte, Schulen und Einrichtungen.

Doch leider musste Procházka auch feststellen, dass er aus der Gehörlosengemeinschaft nicht die Unterstützung erhielt, die er sich gewünscht hatte. Nur etwa die Hälfte von ihnen waren stolz auf seinen Kampfgeist und unterstützen ihn. Dieser Wahlkampf war für Procházka ein sehr anstrengendes und herausforderndes Jahr, auch weil es immer wieder Schwierigkeiten gab qualifizierte Dolmetscher*innen oder überhaupt Dolmetscher*innen zu bekommen. Das war sehr ärgerlich, da hierdurch Sitzungen nicht gedolmetscht wurden oder er sich auf diese nicht immer gut vorbereiten konnte.

 

Als es zur Wahl kam, hatte seine Partei leider verloren. Dies war zwar einerseits schade, denn er hätte gerne eine Brücke geschlagen zwischen der hörenden Mehrheit, den Gehörlosen und natürlich auch Menschen mit anderen Behinderungen. Doch andererseits fehlte ihm der Rückhalt aus der eigenen Gehörlosengemeinschaft. Hinzu kam, dass sich die verschiedenen Gruppierungen der Hörbehinderten (gehörlos, schwerhörig, spätertaubt, CI-Träger*innen) untereinander teils uneinig waren. Sein politisches Engagement war somit erst einmal beendet.

 

Diese Zeit sieht Procházka dennoch als eine große Bereicherung und möchte sie nicht missen. Der Wahlkampf und die unterschiedlichen Meinungen zeigten, dass die Frage der Sprache und Identität eine große Rolle spielt und es in Zukunft ohne gegenseitige Toleranz und Wertschätzung keine vereinte Gehörlosengemeinschaft geben wird. Doch genau das wäre notwendig, so Procházka, um in Zukunft etwas bewegen zu können. In 2009 war dies in Tschechien noch nicht möglich, vielleicht sind jetzt bessere Zeiten…

 

Dass Gehörlose etwas bewegen können, zeigt auch die Erfolgsgeschichte des Eishokey-Teams in Tschechien. Procházka wusste, dass die tschechische Mannschaft noch nicht gut genug war, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können - doch ihn packte der Ehrgeiz.

In nur 4 Monaten schaffte er es, gemeinsam mit anderen diese Mannschaft nicht nur sportlich nach vorne zu bringen, sondern auch Gelder/Sponsoren für die Reise aufzubringen, denn die Weltmeisterschaft der Gehörlosen im Eishockey 2017 fand in den USA statt und behördliche Zuschüsse gab es nicht. Denn diese können nur am Anfang des Jahres beantragt werden, es war jedoch bereits November 2016. Hinzu kamen Kommunikationsprobleme und der ganze Verwaltungsaufwand, der mit einer solchen Meisterschaft und Reise verbunden ist. Doch auch hierfür wurden, in der Kürze der Zeit, Lösungen gefunden.

 

In den USA angekommen traten sie gegen vier Mannschaften an (Gastgeber USA = Weltmeister, Finnland, Kasachstan und Kanada). Sie wurden zwar nur letzter, trotzdem waren alle Beteiligten stolz, dass sie es überhaupt geschafft hatten, sich in nur 4 Monaten für diese Weltmeisterschaft zu qualifizieren und die Reise auch finanziell antreten zu können. Die Vorbereitungszeit und die Weltmeisterschaft selbst waren eine große Bereicherung für alle, mit dem Ergebnis, dass Gehörlose viele Ziele erreichen können - das ist das Wichtigste - dabei sein ist alles!

 

Foto li: Jiří Procházka (Tschechien) - was zunächst wie Scheitern aussieht, kann am Ende doch ein voller Erfolg sein.

Foto re: Sport und Politik interessierte viele - Jiří Procházka (Tschechien, Bild Mitte) erzählte von seinen Erfahrungen.

 

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